SlovoKult ::
Prosa
Lidija Dimkovska
Veröffentlicht:: 2009-03-02 22:00
Versteckte Kamera (S. 37-43)
Aus dem Makedonischen von Klaus Detlef Olof
Ich bin nicht nur im übertragenen, sondern auch im wörtlichen Sinn ihre versteckte Kamera, keine digitale Sony oder Canon, sondern etwas noch Vollkommeneres: als Halbmilimeterchip bin ich in den großen Zeh ihres rechten Fußes implantiert, in die Narbe einer Operation, die Lila mit gerade sechs Monaten erlebt hat, ein Chip mit Ultraschall und Ultrasicht, aber faktisch unsichtbar, deshalb deklariert mich Lila nicht an der Grenze, trägt mich nicht über der Schulter, stellt mich niemandem vor und schmuggelt mich ohne jedes schlechte Gewissen überall ein. In Räumen, wo Filmen verboten ist, zum Beispiel in Kirchen oder Museen, stelle ich mich dumm und nehme auf, weder Priester noch Wachebeamte in den Museen sind sich dessen bewußt, daß sie Figuren eines Films von Lila werden und daß ich neben den Ikonen, wertvollen Bildern und Besuchern auch ihr heimliches Nasebohren oder Hinternkratzen, ihr Gähnen und ihre halblauten Gedanken life einfange, wie die jenes Priesters in einer Bukarester Kirche, der bei der Liturgie vergeblich versuchte, das Wort «lobpreisen» herauszubringen, und dafür «verflixt noch einmal» in seinen Bart murmelte, oder auch die (un)hörbare Reaktion des riesigen Wachebeamten im ersten Stock des Wikinger-Museums in Stockholm, als er vor der Vitrine mit dem Schmuck ein wohlgestaltetes Homosexuellenpaar sich umarmen sah: Fuck off! Ich weiß, und Lila weiß es auch, daß wir Menschenrechte und alle internationalen Regeln verletzen, die uns zur Einhaltung gesetzlicher Vorschriften und Normen verpflichten, aber ist es nicht so: man lebt nur einmal, und «nichts Menschliches ist uns fremd»? Wenn die lieben Nachbarinnen irgendwo auf der Welt aus den Luken und Fenster ihrer Häusern spähen und jede Bewegung Lilas verfolgen können, wenn die alten Weiber in den Balkandörfern vom Hell- bis zum Dunkelwerden «vor dem Tor» sitzen und jede Vorübergehende mit direkten Fragen überfallen können vom Typ: Wohin bist du denn unterwegs, Gevatterin? Ach, die von Mirko bist du? Wo ist denn dein Mann? Was, deine Schwester ist mit ihm durchgegangen? Hast du deinen Lohn gekriegt? Wieviel kriegst du denn bezahlt, Kind? und so fort ins Unendliche, und überhaupt, wenn die kommunistischen Regimes in den Schlafzimmern gewöhnlicher und bereits deshalb verdächtiger Bürger Mikrophone anbringen und sich in ihren grauen Büros deren Ehestreitigkeiten und Lustlaute anhören können, wenn sie so schamlos am Leben der Menschen teilhaben können, ohne selbst am Ort des Geschehens zu sein, warum sollte dann ich als hundertprozentiger Augenzeuge der Lebensgeschichte Lilis nicht auch alles aufnehmen dürfen? Natürlich darf ich das, und die Verfassung der Republik Mazedonien garantiert das Lila Serafimska auch, solange ich versteckt und unsichtbar bin, solange es keine Beweise für meine tatsächliche Existenz gibt. Und wer würde wohl auf die Idee kommen, jemand könnte im großen Zeh des rechten Fußes das allmächtige Auge einer Superkamera eingebaut haben, den perfekten Memorychip? Deshalb hat Lili damit begonnen, mir ihr A.-fiktionales Tagebuch wie folgt zu entnehmen:
Mit sechs Monaten habe ich mir mit dem roten Halbedelstein am Ring meiner Mutter in den rechten großen Zeh geschnitten, als sie mich in dem rosaroten Becken badete, das wir noch immer zu Hause im Badezimmer als Deckel über der Wanne haben (Ja, ja, sie haben eine Art Sarg im Badezimmer), und weil ich nicht ein einziges Mal wöchentlich gebadet werden wollte und ausgeschlagen habe wie ein Füllen, war es kein Wunder, daß sich ein milimetergroßes Stück des Steins in meinen Zeh gebohrt hat. Meine Mutter war schrecklich wütend und brach in Tränen aus, wobei nicht klar war, ob meinetwegen oder wegen des Steins, und als mein Papa ins Krankenhaus rannte, sagte er, um sie zu trösten, er werde ihr einen neuen Ring kaufen, wenn nur das Kind nicht verblutet, aber er konnte sich nicht verkneifen hinzuzusetzen: «Ihr bringt mich noch ins Jenseits.» Dieses Jenseits, das für mich identisch war mit dem Krankenhaus, war mein erstes «Ausland», mein erstes «Nicht-Zuhause», obwohl es nur ein paar Stunden dauerte. Im Krankenhaus faßten sich die Ärzte klarerweise an den Kopf, als sie sahen, daß sie einen sechs Monate alten schwächlichen Säugling operieren sollten, dessen großer Zeh kleiner war als der kleinste Fingernagel der Säuglingsschwester, aber irgendwie gelang es ihnen doch (beziehungsweise glaubten sie, es wäre ihnen gelungen), das milimetergroße Stück Halbedelstein herauszukriegen. Allerdings kriegten sie nicht alles heraus, denn ein noch kleineres Stückchen blieb im Fleisch zurück, ein Splitter des Halbedelsteins, der sich dank einer damals noch unbedeutenden Beziehung zwischen Gott und Lila in einen Chip verwandelte, also in mich, Lilas versteckte Kamera. Sobald Lila und ihr Papa (und damit auch ich!) aus dem Krankenhaus zurück waren, wartete auf Lila und mich eine weitere Reise in die «Fremde», ihre zweite und meine erste, die ganze sechs Jahre dauern sollte. Uns erwartete Šlegovo, mit seinen efeubewachsenen Häusern, mit Dušans Laden, wo Lila als Einjährige die erste «Strumka-Limonade» und als Dreijährige die erste «Dextrose» kostete, wo uns die Reben in Gabreš, Manastir, Zavoj und Spas erwarteten (an letztere drei erinnerte sie sich noch als kleines Kind, und Gabreš hatte sie sich aus Onkels Erzählungen über Kozeta und Gavroš gemerkt, die damals seine Idole waren, so daß Gabreš-Gavroš ihr Abzählvers wurde), uns erwarteten sechs Jahre des Lebens mit Großmutter und Großvater, ohne Mutter und Vater, die uns jeden 11. Oktober, 29. November, 1. Mai und für zwei Wochen im Juli oder im August besuchten, mich wollten sie natürlich nicht sehen, vor allem ihre Mutter nicht, die statt eines neuen Ringes mit einem Stein sofort nach unserer Abreise nach Šlegovo zum Trost runde goldene Ohrringe mit 2 cm Radius bekommen hatte, ohne Stein, denn in der Familie sollte nicht noch ein Unglück passieren. Ich kann Ihnen sagen, daß das Leben in der «Fremde», ungeachtet dessen, ob es sich dabei um Šlegovo, das von Skopje nur zwei Stunden Fahrt mit dem «Škoda», oder um Bukarest, das von Skopje 15 Stunden, oder um Tajpeh, das von Ljubljana nur einen Nachtflug entfernt ist, usw. usw. handelt, ein Leben ist, das zwar zu einer Kamera paßt, nicht aber zu einem Menschen als sozialisiertem Wesen, höchstens zu den Erscheinungsformen seines Egos und den Schwankungen seines Adrenalinspiegels. Das Leben in der Fremde, sagte Lila zu Joseph und Edlira eines Abends, als sie im Wohnzimmer Kokoslikör tranken und sich eine Dokumentation über die Rückkehr Solženizyns nach Rußland ansahen, bedeutet die Auflösung des Nervensystems, und das sage ich nicht, um mich damit vor euch wichtig zu machen, daß ich Rimbaud kenne. Nehmt Solženizyn. Habt ihr gesehen, wie er den jungen Pianisten, der ihm ein Radio in sein neues russisches Zimmer bringt, halst und küßt? Wenig hat gefehlt, und er hätte ihm die Zunge in den Mund gesteckt, so bewegt und gerührt war er. Aber ich verstehe ihn. Wenn jemand vom Syndrom des Lebens in der Fremde gezeichnet ist, verhält er sich überall, auch wenn er wieder zu Hause ist, als wäre er am Ende oder am Anfang seiner Kräfte, aber nie in der Mitte, wie all diese Menschen mit einem beständigen Heim, und deshalb verwandelt er sich total in Gefühl oder Euphorie oder Erregung und deshalb funktionieren seine Organe anders, die Drüsen produzieren mehr Lymphe, die Augen mehr Tränen, das Herz schlägt wie verrückt, das Gehirn reduziert sich auf die Kategorien Schwachsinn und Dummheit, die Arme öffnen sich zur Umarmung eines jeden Idioten, der dir nur ein bißchen zulächelt, die Beine zittern vor liebenswürdigen Verkäuferinnen in Supermärkten, die in Wirklichkeit nur ihr Repertoire herunterbeten, wenn sie dir eine Stange frisches Brot anbieten, schön Faschiertes für herrliche Fleischbällchen, und dir dann einen angenehmen Tag wünschen und dich einladen wiederzukommen. In Wahrheit bewegt sich das Leben in der Fremde als eine Art überempfindliche Antwort auf die Einsamkeit inmitten apriori nicht vereinsamter (und deshalb glücklicher) Menschen ständig an der Grenze zum Kitsch, und deshalb wurde die Diaspora erfunden, um den Menschen zu sozialisieren und aufzurichten. Ich habe im Ausland mehr mazedonische Lieder gehört und mehr mazedonische Volkstänze gesehen als in Mazedonien selbst, mehr patriotische Gedichte wurde in literarischen Auswandererkreisen geschrieben als vom gesamten Schriftstellerverband Mazedoniens! Meiner Meinung nach wäre es das Beste, aus der Kategorie «Fremde» von allem Anfang an auszutreten und die Fremde in Heimat zu verwandeln, weil dich sonst Talent und Kunst verlassen. Bewahre dir das Gefühl für Zynismus und entwickle es nach Möglichkeit weiter, damit sich Kritik mit Selbstkritik verbinden kann – das ist die Formel dafür, wie man nicht zu einem Teil der Diaspora beziehungsweise des Kitsches wird. Ich weiß nicht, wieviel Joseph und Edlira von Lilas Brandrede (noch eine Folge der «Fremde») verstanden, ihnen war es sogar ein wenig peinlich, da sie noch nie in der Fremde gelebt hatten und deshalb über keine vergleichbaren Erfahrungen verfügten, aber an dem, was sie gesagt hatte, war etwas Wahres dran, und ich kann bestätigen, daß sie es in ihrer, d. h. unserer ersten und wichtigsten Fremde erlebt hat. In Šlegovo gab es nur Ereignisse und Begebenheiten, die auf gleicher Wellenlänge waren mit etwas über (oder unter) ihr, etwas Übersinnliches, Surreales, d. h. Unnormales, und man kann sich vorstellen, was für ein Genuß das ist für eine Kamera! Das erste derartige Ereignis war ein paar Tage, nachdem die Eltern sie bei Oma und Großvater in Šlegovo zurückgelassen hatten, als Lila gerade sechs Monate und sechs Tage alt war. Großmutter träufelte ihr abgekochte Schafsmilch mit einem Löffelchen in den Mund, wickelte sie in Windeln, hüllte sie in eine weiße Decke und legte uns auf das Bett in Großvaters Zimmer, dort wo nicht gekocht wurde und es deshalb auch keine Fliegen gab und die Stille nur vom Schlag des Uhrwerks unterbrochen wurde. Sie ging zum Dorfbrunnen, um Wasser zu holen, und Lila und ich blieben allein zurück, ich wach und sie schlummernd auf dem Bett, das mit einer rosa Decke mit zwei gestickten Herzen und dem Spruch «Herze mein und Herze dein sollen in Liebe verbunden sein» bedeckt war. Ich könnte Ihnen erzählen, was am Ort des Geschehens passiert ist, aber erlauben wir doch der Großmutter, den Vorfall aus ihrer Sicht darzustellen. Als nämlich Lilis Großmutter zurückkam und die Tür zu dem Zimmer öffnete, blieb sie wie erstarrt auf der Schwelle stehen und hielt sich automatisch die Hand vor den Mund. Was mußte sie sehen! Um mich und Lila wimmelte es von Ameisen, das halbe Bett war bedeckt mit den kleinen schwarzen Tierchen, die sich wie ein Reif um Lilis Körper und um meinen Fußplatz drehten, aber auf Lila war keine einzige schwarze Ameise gekrochen. «Mein Gott!» sagte Großmutter, packte Lila, drehte uns nach allen Seiten, aber nicht eine Ameise hatte sich zwischen die Windeln verirrt, sie umkreisten nur in großer Geschwindigkeit Lilas Lager, das zugleich auch das meine war. «Mein Gott!» wiederholte Großmutter und lief mit Lila auf dem Arm aus dem Zimmer Sie brachte uns in den anderen Raum, wo es warm war und wo vom Topf auf dem holzbeheizten Herd der Duft von Bohnen aufstieg und kreuz und quer die Fliegen flogen. Sie legte Lili auf das Bett und lief hinaus. Später sollte Großmutter allen möglichen Gästen und zufälligen Hausbesuchern, vor allem aber allen potentiellen Bräutigammen Lilas erzählen, wie sie direkt zu Tante Mada gelaufen war, der obersten Weisen Frau des Dorfes, und ihr von den Ameisen rings um Lila berichtet hatte. «Und du behauptest, nicht eine Ameise sei auf das Kind gekrochen?» fragte die mißtrauische Weise Frau, die gerade dabei war, im Kessel Schweinetalg auszulassen, und deshalb nicht mitkommen und das Berichtete nachprüfen konnte. «Nein, Tante Mada, nein, nein, würde ich dich etwa anlügen? Lila war sauber, weiß, nur um sie herum ein Schwarm Ameisen», sagte Großmutter mit zitternder Stimme. Die Weise Frau nahm ihr Kopftuch ab und band es sich mit einem festen Knoten unter dem Kinn wieder um, so wie man in Šlegovo das Kopftuch trägt, und sagte: «Ich werde dir etwas Schönes sagen. Deine Enkelin wird im Leben Erfolg haben, aber stets werden Fallen auf sie lauern. Daß sie, wie du sagst, von keiner einzigen Ameise angerührt wurde, bedeutet, daß sie lange leben wird, daß aus ihr jemand wird und daß Gott sie behüten wird, obwohl sie es nicht immer leicht haben wird. Die Ameisen sammle in einem Tuch und laß sie im Hof frei, nach Norden.» «Hauptsache, sie ist lebendig und gesund», beendete Großmutter die Deutung der Ameisenzeichen in optimistischerem Ton, und als sie nach Hause zurückgekehrt war, tat sie, wie ihr aufgetragen war. Als am Abend Großvater Sime vom Weinberg in Manastir heimkam und Lilas Großmutter ihm berichtete, was geschehen war, glaubte er ihr zunächst nicht und herrschte Großmutter wie stets bei solchen Gelegenheit in macho-autoritärem Ton an: «Dummes Weib, warum marschieren wohl die Ameisen durchs Haus, bestimmt hast du Zucker verschüttet.» Als er sich aber an den Bohnen und den scharfen Peperoni sattgegessen hatte, sagte er in milderem Ton, sie solle ihm Wasser in einem Schnapsglas bringen, dann tauchte er den kleinen Finger der rechten Hand hinein und besprach Lila, indem er ihr den Finger auf die kleine Stirn, die Wängelchen und dorthin legte, wo sich unter den Windeln, seinem Vermuten nach, der Bauchnabel befand. Die ganze Zeit hörte man einen Ton ähnlich einem «tzu, tzu», wie wenn man die Lippen spitzt, um einem Baby ein Küßchen zuzuhauchen, und auch mir wurde irgendwie warm in dem Zeh Lilas, die für ihre ewig kalten Füße bekannt ist. Dann schlief Lila die ganze Nacht, und so auch Großmutter, die, seit Lilas Eltern uns in Šlegovo zurückgelassen hatten, bis zu ihrem sechsten Lebensjahr zu Lilas Füßen schlief, so daß ich, verborgen in Lilas Zeh, die ganzen sechs Jahre hindurch ihr Schnaufen, ihr nächtliches Erwachen und ihr Gemurmel, das ihr selbst oder der schlafenden Lila galt, mit anhören mußte. Bis zu ihrem sechsten Lebensjahr, aber auch danach, besprach der Großvater sie bei jedem kleinen Weinen, Schnupfen oder Bauchschmerz mit dem Finger, in den er in seiner Jugend einmal von einer Schlange gebissen worden war, die dann in der Tiersprache zu ihm gesagt hatte, er solle den Finger für gute Werke verwenden – zum Besprechen von kränkelnden Kindern. Das waren mehr oder weniger alle Kinder in Lilas weiterer Familie, aber auch die Kinder aus den umliegenden Dörfern, die von ihren Eltern abends «zum Besprechen» gebracht wurden, wofür Großvater Sime nicht nur säckeweise Nüsse und Äpfel oder schockweise heimische Eier, sondern auch rote Tausender angeboten wurden, die er aber jedesmal zurückwies, nicht weil er sie nicht hätte haben wollen, oder weil er genug Geld besaß, sondern weil die Schlange ihm deutlich zu verstehen gegeben hatte, daß die Gabe des Besprechens ihr allein gehöre und er nur der Vermittler sei und er sich deshalb ja nicht einfallen lassen solle, dafür Geld zu verlangen oder zu nehmen.
Versteckte Kamera (S. 37-43)
Aus dem Makedonischen von Klaus Detlef Olof
Ich bin nicht nur im übertragenen, sondern auch im wörtlichen Sinn ihre versteckte Kamera, keine digitale Sony oder Canon, sondern etwas noch Vollkommeneres: als Halbmilimeterchip bin ich in den großen Zeh ihres rechten Fußes implantiert, in die Narbe einer Operation, die Lila mit gerade sechs Monaten erlebt hat, ein Chip mit Ultraschall und Ultrasicht, aber faktisch unsichtbar, deshalb deklariert mich Lila nicht an der Grenze, trägt mich nicht über der Schulter, stellt mich niemandem vor und schmuggelt mich ohne jedes schlechte Gewissen überall ein. In Räumen, wo Filmen verboten ist, zum Beispiel in Kirchen oder Museen, stelle ich mich dumm und nehme auf, weder Priester noch Wachebeamte in den Museen sind sich dessen bewußt, daß sie Figuren eines Films von Lila werden und daß ich neben den Ikonen, wertvollen Bildern und Besuchern auch ihr heimliches Nasebohren oder Hinternkratzen, ihr Gähnen und ihre halblauten Gedanken life einfange, wie die jenes Priesters in einer Bukarester Kirche, der bei der Liturgie vergeblich versuchte, das Wort «lobpreisen» herauszubringen, und dafür «verflixt noch einmal» in seinen Bart murmelte, oder auch die (un)hörbare Reaktion des riesigen Wachebeamten im ersten Stock des Wikinger-Museums in Stockholm, als er vor der Vitrine mit dem Schmuck ein wohlgestaltetes Homosexuellenpaar sich umarmen sah: Fuck off! Ich weiß, und Lila weiß es auch, daß wir Menschenrechte und alle internationalen Regeln verletzen, die uns zur Einhaltung gesetzlicher Vorschriften und Normen verpflichten, aber ist es nicht so: man lebt nur einmal, und «nichts Menschliches ist uns fremd»? Wenn die lieben Nachbarinnen irgendwo auf der Welt aus den Luken und Fenster ihrer Häusern spähen und jede Bewegung Lilas verfolgen können, wenn die alten Weiber in den Balkandörfern vom Hell- bis zum Dunkelwerden «vor dem Tor» sitzen und jede Vorübergehende mit direkten Fragen überfallen können vom Typ: Wohin bist du denn unterwegs, Gevatterin? Ach, die von Mirko bist du? Wo ist denn dein Mann? Was, deine Schwester ist mit ihm durchgegangen? Hast du deinen Lohn gekriegt? Wieviel kriegst du denn bezahlt, Kind? und so fort ins Unendliche, und überhaupt, wenn die kommunistischen Regimes in den Schlafzimmern gewöhnlicher und bereits deshalb verdächtiger Bürger Mikrophone anbringen und sich in ihren grauen Büros deren Ehestreitigkeiten und Lustlaute anhören können, wenn sie so schamlos am Leben der Menschen teilhaben können, ohne selbst am Ort des Geschehens zu sein, warum sollte dann ich als hundertprozentiger Augenzeuge der Lebensgeschichte Lilis nicht auch alles aufnehmen dürfen? Natürlich darf ich das, und die Verfassung der Republik Mazedonien garantiert das Lila Serafimska auch, solange ich versteckt und unsichtbar bin, solange es keine Beweise für meine tatsächliche Existenz gibt. Und wer würde wohl auf die Idee kommen, jemand könnte im großen Zeh des rechten Fußes das allmächtige Auge einer Superkamera eingebaut haben, den perfekten Memorychip? Deshalb hat Lili damit begonnen, mir ihr A.-fiktionales Tagebuch wie folgt zu entnehmen:
Mit sechs Monaten habe ich mir mit dem roten Halbedelstein am Ring meiner Mutter in den rechten großen Zeh geschnitten, als sie mich in dem rosaroten Becken badete, das wir noch immer zu Hause im Badezimmer als Deckel über der Wanne haben (Ja, ja, sie haben eine Art Sarg im Badezimmer), und weil ich nicht ein einziges Mal wöchentlich gebadet werden wollte und ausgeschlagen habe wie ein Füllen, war es kein Wunder, daß sich ein milimetergroßes Stück des Steins in meinen Zeh gebohrt hat. Meine Mutter war schrecklich wütend und brach in Tränen aus, wobei nicht klar war, ob meinetwegen oder wegen des Steins, und als mein Papa ins Krankenhaus rannte, sagte er, um sie zu trösten, er werde ihr einen neuen Ring kaufen, wenn nur das Kind nicht verblutet, aber er konnte sich nicht verkneifen hinzuzusetzen: «Ihr bringt mich noch ins Jenseits.» Dieses Jenseits, das für mich identisch war mit dem Krankenhaus, war mein erstes «Ausland», mein erstes «Nicht-Zuhause», obwohl es nur ein paar Stunden dauerte. Im Krankenhaus faßten sich die Ärzte klarerweise an den Kopf, als sie sahen, daß sie einen sechs Monate alten schwächlichen Säugling operieren sollten, dessen großer Zeh kleiner war als der kleinste Fingernagel der Säuglingsschwester, aber irgendwie gelang es ihnen doch (beziehungsweise glaubten sie, es wäre ihnen gelungen), das milimetergroße Stück Halbedelstein herauszukriegen. Allerdings kriegten sie nicht alles heraus, denn ein noch kleineres Stückchen blieb im Fleisch zurück, ein Splitter des Halbedelsteins, der sich dank einer damals noch unbedeutenden Beziehung zwischen Gott und Lila in einen Chip verwandelte, also in mich, Lilas versteckte Kamera. Sobald Lila und ihr Papa (und damit auch ich!) aus dem Krankenhaus zurück waren, wartete auf Lila und mich eine weitere Reise in die «Fremde», ihre zweite und meine erste, die ganze sechs Jahre dauern sollte. Uns erwartete Šlegovo, mit seinen efeubewachsenen Häusern, mit Dušans Laden, wo Lila als Einjährige die erste «Strumka-Limonade» und als Dreijährige die erste «Dextrose» kostete, wo uns die Reben in Gabreš, Manastir, Zavoj und Spas erwarteten (an letztere drei erinnerte sie sich noch als kleines Kind, und Gabreš hatte sie sich aus Onkels Erzählungen über Kozeta und Gavroš gemerkt, die damals seine Idole waren, so daß Gabreš-Gavroš ihr Abzählvers wurde), uns erwarteten sechs Jahre des Lebens mit Großmutter und Großvater, ohne Mutter und Vater, die uns jeden 11. Oktober, 29. November, 1. Mai und für zwei Wochen im Juli oder im August besuchten, mich wollten sie natürlich nicht sehen, vor allem ihre Mutter nicht, die statt eines neuen Ringes mit einem Stein sofort nach unserer Abreise nach Šlegovo zum Trost runde goldene Ohrringe mit 2 cm Radius bekommen hatte, ohne Stein, denn in der Familie sollte nicht noch ein Unglück passieren. Ich kann Ihnen sagen, daß das Leben in der «Fremde», ungeachtet dessen, ob es sich dabei um Šlegovo, das von Skopje nur zwei Stunden Fahrt mit dem «Škoda», oder um Bukarest, das von Skopje 15 Stunden, oder um Tajpeh, das von Ljubljana nur einen Nachtflug entfernt ist, usw. usw. handelt, ein Leben ist, das zwar zu einer Kamera paßt, nicht aber zu einem Menschen als sozialisiertem Wesen, höchstens zu den Erscheinungsformen seines Egos und den Schwankungen seines Adrenalinspiegels. Das Leben in der Fremde, sagte Lila zu Joseph und Edlira eines Abends, als sie im Wohnzimmer Kokoslikör tranken und sich eine Dokumentation über die Rückkehr Solženizyns nach Rußland ansahen, bedeutet die Auflösung des Nervensystems, und das sage ich nicht, um mich damit vor euch wichtig zu machen, daß ich Rimbaud kenne. Nehmt Solženizyn. Habt ihr gesehen, wie er den jungen Pianisten, der ihm ein Radio in sein neues russisches Zimmer bringt, halst und küßt? Wenig hat gefehlt, und er hätte ihm die Zunge in den Mund gesteckt, so bewegt und gerührt war er. Aber ich verstehe ihn. Wenn jemand vom Syndrom des Lebens in der Fremde gezeichnet ist, verhält er sich überall, auch wenn er wieder zu Hause ist, als wäre er am Ende oder am Anfang seiner Kräfte, aber nie in der Mitte, wie all diese Menschen mit einem beständigen Heim, und deshalb verwandelt er sich total in Gefühl oder Euphorie oder Erregung und deshalb funktionieren seine Organe anders, die Drüsen produzieren mehr Lymphe, die Augen mehr Tränen, das Herz schlägt wie verrückt, das Gehirn reduziert sich auf die Kategorien Schwachsinn und Dummheit, die Arme öffnen sich zur Umarmung eines jeden Idioten, der dir nur ein bißchen zulächelt, die Beine zittern vor liebenswürdigen Verkäuferinnen in Supermärkten, die in Wirklichkeit nur ihr Repertoire herunterbeten, wenn sie dir eine Stange frisches Brot anbieten, schön Faschiertes für herrliche Fleischbällchen, und dir dann einen angenehmen Tag wünschen und dich einladen wiederzukommen. In Wahrheit bewegt sich das Leben in der Fremde als eine Art überempfindliche Antwort auf die Einsamkeit inmitten apriori nicht vereinsamter (und deshalb glücklicher) Menschen ständig an der Grenze zum Kitsch, und deshalb wurde die Diaspora erfunden, um den Menschen zu sozialisieren und aufzurichten. Ich habe im Ausland mehr mazedonische Lieder gehört und mehr mazedonische Volkstänze gesehen als in Mazedonien selbst, mehr patriotische Gedichte wurde in literarischen Auswandererkreisen geschrieben als vom gesamten Schriftstellerverband Mazedoniens! Meiner Meinung nach wäre es das Beste, aus der Kategorie «Fremde» von allem Anfang an auszutreten und die Fremde in Heimat zu verwandeln, weil dich sonst Talent und Kunst verlassen. Bewahre dir das Gefühl für Zynismus und entwickle es nach Möglichkeit weiter, damit sich Kritik mit Selbstkritik verbinden kann – das ist die Formel dafür, wie man nicht zu einem Teil der Diaspora beziehungsweise des Kitsches wird. Ich weiß nicht, wieviel Joseph und Edlira von Lilas Brandrede (noch eine Folge der «Fremde») verstanden, ihnen war es sogar ein wenig peinlich, da sie noch nie in der Fremde gelebt hatten und deshalb über keine vergleichbaren Erfahrungen verfügten, aber an dem, was sie gesagt hatte, war etwas Wahres dran, und ich kann bestätigen, daß sie es in ihrer, d. h. unserer ersten und wichtigsten Fremde erlebt hat. In Šlegovo gab es nur Ereignisse und Begebenheiten, die auf gleicher Wellenlänge waren mit etwas über (oder unter) ihr, etwas Übersinnliches, Surreales, d. h. Unnormales, und man kann sich vorstellen, was für ein Genuß das ist für eine Kamera! Das erste derartige Ereignis war ein paar Tage, nachdem die Eltern sie bei Oma und Großvater in Šlegovo zurückgelassen hatten, als Lila gerade sechs Monate und sechs Tage alt war. Großmutter träufelte ihr abgekochte Schafsmilch mit einem Löffelchen in den Mund, wickelte sie in Windeln, hüllte sie in eine weiße Decke und legte uns auf das Bett in Großvaters Zimmer, dort wo nicht gekocht wurde und es deshalb auch keine Fliegen gab und die Stille nur vom Schlag des Uhrwerks unterbrochen wurde. Sie ging zum Dorfbrunnen, um Wasser zu holen, und Lila und ich blieben allein zurück, ich wach und sie schlummernd auf dem Bett, das mit einer rosa Decke mit zwei gestickten Herzen und dem Spruch «Herze mein und Herze dein sollen in Liebe verbunden sein» bedeckt war. Ich könnte Ihnen erzählen, was am Ort des Geschehens passiert ist, aber erlauben wir doch der Großmutter, den Vorfall aus ihrer Sicht darzustellen. Als nämlich Lilis Großmutter zurückkam und die Tür zu dem Zimmer öffnete, blieb sie wie erstarrt auf der Schwelle stehen und hielt sich automatisch die Hand vor den Mund. Was mußte sie sehen! Um mich und Lila wimmelte es von Ameisen, das halbe Bett war bedeckt mit den kleinen schwarzen Tierchen, die sich wie ein Reif um Lilis Körper und um meinen Fußplatz drehten, aber auf Lila war keine einzige schwarze Ameise gekrochen. «Mein Gott!» sagte Großmutter, packte Lila, drehte uns nach allen Seiten, aber nicht eine Ameise hatte sich zwischen die Windeln verirrt, sie umkreisten nur in großer Geschwindigkeit Lilas Lager, das zugleich auch das meine war. «Mein Gott!» wiederholte Großmutter und lief mit Lila auf dem Arm aus dem Zimmer Sie brachte uns in den anderen Raum, wo es warm war und wo vom Topf auf dem holzbeheizten Herd der Duft von Bohnen aufstieg und kreuz und quer die Fliegen flogen. Sie legte Lili auf das Bett und lief hinaus. Später sollte Großmutter allen möglichen Gästen und zufälligen Hausbesuchern, vor allem aber allen potentiellen Bräutigammen Lilas erzählen, wie sie direkt zu Tante Mada gelaufen war, der obersten Weisen Frau des Dorfes, und ihr von den Ameisen rings um Lila berichtet hatte. «Und du behauptest, nicht eine Ameise sei auf das Kind gekrochen?» fragte die mißtrauische Weise Frau, die gerade dabei war, im Kessel Schweinetalg auszulassen, und deshalb nicht mitkommen und das Berichtete nachprüfen konnte. «Nein, Tante Mada, nein, nein, würde ich dich etwa anlügen? Lila war sauber, weiß, nur um sie herum ein Schwarm Ameisen», sagte Großmutter mit zitternder Stimme. Die Weise Frau nahm ihr Kopftuch ab und band es sich mit einem festen Knoten unter dem Kinn wieder um, so wie man in Šlegovo das Kopftuch trägt, und sagte: «Ich werde dir etwas Schönes sagen. Deine Enkelin wird im Leben Erfolg haben, aber stets werden Fallen auf sie lauern. Daß sie, wie du sagst, von keiner einzigen Ameise angerührt wurde, bedeutet, daß sie lange leben wird, daß aus ihr jemand wird und daß Gott sie behüten wird, obwohl sie es nicht immer leicht haben wird. Die Ameisen sammle in einem Tuch und laß sie im Hof frei, nach Norden.» «Hauptsache, sie ist lebendig und gesund», beendete Großmutter die Deutung der Ameisenzeichen in optimistischerem Ton, und als sie nach Hause zurückgekehrt war, tat sie, wie ihr aufgetragen war. Als am Abend Großvater Sime vom Weinberg in Manastir heimkam und Lilas Großmutter ihm berichtete, was geschehen war, glaubte er ihr zunächst nicht und herrschte Großmutter wie stets bei solchen Gelegenheit in macho-autoritärem Ton an: «Dummes Weib, warum marschieren wohl die Ameisen durchs Haus, bestimmt hast du Zucker verschüttet.» Als er sich aber an den Bohnen und den scharfen Peperoni sattgegessen hatte, sagte er in milderem Ton, sie solle ihm Wasser in einem Schnapsglas bringen, dann tauchte er den kleinen Finger der rechten Hand hinein und besprach Lila, indem er ihr den Finger auf die kleine Stirn, die Wängelchen und dorthin legte, wo sich unter den Windeln, seinem Vermuten nach, der Bauchnabel befand. Die ganze Zeit hörte man einen Ton ähnlich einem «tzu, tzu», wie wenn man die Lippen spitzt, um einem Baby ein Küßchen zuzuhauchen, und auch mir wurde irgendwie warm in dem Zeh Lilas, die für ihre ewig kalten Füße bekannt ist. Dann schlief Lila die ganze Nacht, und so auch Großmutter, die, seit Lilas Eltern uns in Šlegovo zurückgelassen hatten, bis zu ihrem sechsten Lebensjahr zu Lilas Füßen schlief, so daß ich, verborgen in Lilas Zeh, die ganzen sechs Jahre hindurch ihr Schnaufen, ihr nächtliches Erwachen und ihr Gemurmel, das ihr selbst oder der schlafenden Lila galt, mit anhören mußte. Bis zu ihrem sechsten Lebensjahr, aber auch danach, besprach der Großvater sie bei jedem kleinen Weinen, Schnupfen oder Bauchschmerz mit dem Finger, in den er in seiner Jugend einmal von einer Schlange gebissen worden war, die dann in der Tiersprache zu ihm gesagt hatte, er solle den Finger für gute Werke verwenden – zum Besprechen von kränkelnden Kindern. Das waren mehr oder weniger alle Kinder in Lilas weiterer Familie, aber auch die Kinder aus den umliegenden Dörfern, die von ihren Eltern abends «zum Besprechen» gebracht wurden, wofür Großvater Sime nicht nur säckeweise Nüsse und Äpfel oder schockweise heimische Eier, sondern auch rote Tausender angeboten wurden, die er aber jedesmal zurückwies, nicht weil er sie nicht hätte haben wollen, oder weil er genug Geld besaß, sondern weil die Schlange ihm deutlich zu verstehen gegeben hatte, daß die Gabe des Besprechens ihr allein gehöre und er nur der Vermittler sei und er sich deshalb ja nicht einfallen lassen solle, dafür Geld zu verlangen oder zu nehmen.