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Prosa
Petre M. Andreevski
Nebeska Timjanovna (Auszug aus dem Roman)
Aus dem Makedonischen von Will Firth
Nebeska Timjanovna (Auszug aus dem Roman)
Aus dem Makedonischen von Will Firth
Ausschnitt aus dem Roman, Teil 1
„Schon von Weitem wissen die Polizisten, welche Sprache du sprichst; sobald du auch nur den Mund öffnest, wissen sie es und kommen geradewegs auf dich zu, spucken dir in den offenen Mund und zertrümmern dir die Zähne; sie verwischen die slawischen Inschriften der Kirchen und Gräber, ändern die Namen von Menschen und Orten, du darfst nicht einmal in deiner Sprache weinen oder die Toten auf dem letzten Weg begleiten (…). Aber wenn unsere Partei obsiegt, wird kein Mensch mehr des anderen Untertan sein; wir werden unsere Sprache sprechen und in ihr unterrichten ...“(S. 14)
Ausschnitt aus dem Roman, Teil 2
„In Skopje traf ich Anfang November ein. Die Bäume hatten ihre Blätter verloren, das Laub faulte auf dem Boden. Im Vardar-Tal ließen sich die ersten Nebelschwaden zum Weiden nieder. Eine klebrige Feuchtigkeit benetzte die Haare und die Kleidung; und doch war es schön. Sie gaben mir eine Anstellung im Mazedonischen Roten Kreuz. Ich sagte mir, es würde eine Weile dauern, bis ich mein Kind sehen und es zu mir holen konnte. Das war vielleicht eine Illusion! Die Monate vergingen und meine Arbeit nahm kein Ende. Bei der Rückkehr hatte ich mir vorgenommen, ein ganzes Jahr lang im Bett zu bleiben, um zu sehen, wie lange ich schlafen konnte. Aber alle Mütter aus dem ägäischen Teil Mazedoniens suchten ihre Kinder über mich, während ich mein eigenes Kind gar nicht kommen lassen konnte. Schreiben nach Schreiben richtete ich an das Internationale Rote Kreuz, doch in der Liste, die mir zurückgeschickt wurde, fehlte der Name meines Kindes. Eine Hand hatte ihn durchgestrichen.
Ich wusste, dass das Kind in Rumänien war, aber dort befand sich auch der Exilsitz der griechischen Partei, die sich immer noch an mir rächen wollte und das Kind deshalb nicht herausgab. Ich empfing jede Gruppe zurückkehrender Flüchtlingskinder, konnte mein eigenes aber nicht empfangen. Das war ein bloßes Hingehen und Zuschauen. Die Menschen wirkten auf mich bekannt und zugleich fremd: ich hatte das Gefühl, sie an ihren Gesichtern zu erkennen, andererseits standen sie da und erschienen mir fremd.
Uns wurde mitgeteilt, wenn ein Zug mit Kindern erwartet wurde; schon frühmorgens reihten wir uns auf dem Bahnhof ein. (…) Junge Menschen stiegen aus dem Zug und riefen die Namen der Menschen heraus, die sie suchten. (…) Nie zuvor habe ich so viel Glück mit so viel Schmerz vermischt gesehen, so eng miteinander verwoben. Mein eigenes Kind war von der Liste gestrichen worden, wieder und immer wieder, vielleicht sogar von derselben Hand. Und ich musste zusehen und es ewig ertragen, ich musste an meinen Tränen fast ersticken und sie hinunterschlucken. (…)
Eines Tages setzte ich mich in den Zug und fuhr nach Belgrad. Über Belgrad würde ich mein Kind suchen. Ich hatte so einen Hass auf die Züge bekommen, meine Abneigung wäre beinahe in Fleisch und Blut übergegangen. Aber das Warten hatte ich auch satt. Ich hielt es nicht mehr aus. Also knöpfte ich mir das jugoslawische Außenministerium vor und klopfte dort an allen Türen. Ich ging zu diesem und zu jenem und zum nächsten Genossen, und sie sagten mir: „Wende dich dorthin.“ Also wandte ich mich dorthin und wurde wieder zurückgeschickt: „Dafür sind wir nicht zuständig“, hieß es. Ich rotierte, ging von Tür zu Tür. Bitter wie Wermut waren die ganzen Abweisungen – ich kam mir wie eine Bittstellerin vor, eine Bettlerin. Was mir nicht alles durch den Kopf ging, aber ich ließ nicht locker: Das Kind war der Eckpfeiler meiner Welt. (…)
Man entschied, mir einen fingierten diplomatischen Pass auszustellen. Mit meinem Vornamen, aber mit einem anderen Nachnamen. Wo die Wahrheit nicht durchkommt, schafft es die Lüge. Man fürchtete, ich könnte etwas Großes anrichten. Also reiste ich als hohe Angestellte des Jugoslawischen Roten Kreuzes nach Rumänien. Würde mein Umherstreifen auf den Straßen Europas und Asiens einmal ein Ende haben? Der Weg glitt fort und fort, ein Ende war nicht in Sicht. In Bukarest hatte ich mehrere Treffen mit Vertretern des Rumänischen Roten Kreuzes. Wir verhandelten über die Rückkehr aller Flüchtlingskinder, die aus dem ägäischen Teil Mazedoniens stammten. Wie mir dabei zu Mute war – von Kindern zu sprechen, aber nicht sagen zu dürfen, dass ich wegen des eigenen Kindes gekommen war – weiß allein ich. Ich trug eine schwarze Brille, die ich nicht absetzte; ich versteckte mich, wo ich nur konnte. Mich plagte die große Angst, jemand könnte mich sehen und erkennen. Ich saß wie auf Kohlen. Eine der Frauen merkte es mir an und begann zu bohren, als wir zu zweit zusammensaßen. (…)
„Haben Sie etwas zu verstecken?“
„Ja, ich verstecke mich selbst.“
„Wollen Sie nicht darüber reden?“
„Ich wüsste nicht, wo ich anfangen sollte“, sickerte es aus mir heraus. Vor jedem Wort zog ich an meiner Zigarette, meine Worte hüllten sich in Qualm. Und trotzdem wusste ich nicht, wie ich das Thema angehen sollte – mein Verstand zerrann wie Wasser.
„Sagen Sie es geradeheraus“, bot mir die Frau an.
„Ich habe hier selbst ein Kind“, brachte ich heraus und spürte die Tränen in mir aufwallen, die bald überquollen und in die Kaffeetasse tropften. Mein Gott, führt der Weg zum Glück durch ein Meer von Tränen?
Die Frau stand auf und rückte den Vorhang zurecht, damit das grelle Sonnenlicht nicht mehr auf den Tisch fiel. Und ich dachte, sie steht auf, um die Polizei zu rufen! Sie sprach nochmals zu mir:
„Weinen Sie ruhig, es ist in Ordnung … Wie heißt das Kind?“
„Ivan Abazovski“, schniefte ich.
„Sie sind seine Mutter?“
„Ja. Der Vater ist umgekommen.“
„Das Kind hat aber einen anderen Nachnamen.“
„Nein, ich bin es, die einen anderen Nachnamen hat. Ich habe nochmals geheiratet“, log ich.
„Ich kenne das Kind“, verriet mir die Frau. „Bei jedem Gesuch von Ihnen haben wir Bukarest verständigt, aber jedes Mal ist ein Vertreter der griechischen Partei gekommen und hat uns das Kind wieder weggenommen. Ich weiß nicht, warum sie den Jungen nicht freigeben wollen.“
„Ich weiß es auch nicht.“
„Wenn das so ist“, sagte sie, „werden wir Ihnen das Kind ohne deren Wissen übergeben.“
Ich schnellte aus meinen Sitz hoch, meine Zigarette zerbarst in einem Funkenregen, weiße Tauben flatterten draußen durch die Lüfte. Die ganze Stadt wimmelte nur so vor Tauben.
Zwei Tage später rief man mich von der Rezeption: „Sie haben Besuch!“ Ich lief die Treppe hinunter, ohne auf den Aufzug zu warten. Ein geheimnisvolles Licht führte mich die Stufen hinunter. Ich rannte und hörte plötzlich Schritte hinter mir … Im Foyer stand die Frau, neben ihr ein Kind mit angstvollen Augen.
„Hier ist deine Mutter“, sagte sie ihm.
Das Kind sah mich an und hielt sich fest an ihrer Hand. Es wollte sie nicht loslassen.
„Das ist deine Mutter … geh doch zu deiner Mama“, sprach die Frau und gab ihm einen Schubs in meine Richtung. Aber das Kind machte keinen Schritt weiter, drehte den Kopf weg, wollte zu der Frau zurück. Mein Gott, sagte ich mir, will mich mein eigenes Kind nicht sehen? Ich bin ihm völlig fremd geworden. Es hielt die Hand vor den Augen, drückte die Augen zu. Ob aus Angst, aus Scham oder etwas anderem. Ich wusste auch nicht, wie ich es ansprechen sollte, ich war ganz benommen. Und doch ging von ihm ein Licht aus. Auch in mir glühte ein Licht: es wärmte meine Seele und fuhr wie eine Hand über mein Gesicht.
„Du bist keine Mutter“, sagte der kleine Junge zu mir.
„Ich bin deine Mutter –“, beteuerte ich ihm, „du hast keine andere.“
„Mütter gehen doch in Schwarz“, hielt er mir vor.
Ich entsann mich: man hatte mir von den Erzieherinnen in den Waisenheimen erzählt. Dass alle schwarze Kleider tragen, schwarze Kopftücher auch. Das war Vorschrift: damit die Kinder sich an ihre Mütter erinnern.
„Mütter tragen ihre Haare nicht offen“, legte der Junge nach. „Alle Mütter trauern und tragen ein schwarzes Kopftuch.“
„Ich bin schwarz in der Seele, dort ist mein Schwarz“, sagte ich und fasste nach seiner Hand, aber er drehte sich um und lief mir weg. Er warf sich auf die Frau, klettete sich wie Efeu an ihrem Hals fest und ließ sie nicht mehr los. Mein Herz zerbrach wie Glas, wie ein Becher, der zu Boden fällt.“ (S. 289-294)
„Schon von Weitem wissen die Polizisten, welche Sprache du sprichst; sobald du auch nur den Mund öffnest, wissen sie es und kommen geradewegs auf dich zu, spucken dir in den offenen Mund und zertrümmern dir die Zähne; sie verwischen die slawischen Inschriften der Kirchen und Gräber, ändern die Namen von Menschen und Orten, du darfst nicht einmal in deiner Sprache weinen oder die Toten auf dem letzten Weg begleiten (…). Aber wenn unsere Partei obsiegt, wird kein Mensch mehr des anderen Untertan sein; wir werden unsere Sprache sprechen und in ihr unterrichten ...“(S. 14)
Ausschnitt aus dem Roman, Teil 2
„In Skopje traf ich Anfang November ein. Die Bäume hatten ihre Blätter verloren, das Laub faulte auf dem Boden. Im Vardar-Tal ließen sich die ersten Nebelschwaden zum Weiden nieder. Eine klebrige Feuchtigkeit benetzte die Haare und die Kleidung; und doch war es schön. Sie gaben mir eine Anstellung im Mazedonischen Roten Kreuz. Ich sagte mir, es würde eine Weile dauern, bis ich mein Kind sehen und es zu mir holen konnte. Das war vielleicht eine Illusion! Die Monate vergingen und meine Arbeit nahm kein Ende. Bei der Rückkehr hatte ich mir vorgenommen, ein ganzes Jahr lang im Bett zu bleiben, um zu sehen, wie lange ich schlafen konnte. Aber alle Mütter aus dem ägäischen Teil Mazedoniens suchten ihre Kinder über mich, während ich mein eigenes Kind gar nicht kommen lassen konnte. Schreiben nach Schreiben richtete ich an das Internationale Rote Kreuz, doch in der Liste, die mir zurückgeschickt wurde, fehlte der Name meines Kindes. Eine Hand hatte ihn durchgestrichen.
Ich wusste, dass das Kind in Rumänien war, aber dort befand sich auch der Exilsitz der griechischen Partei, die sich immer noch an mir rächen wollte und das Kind deshalb nicht herausgab. Ich empfing jede Gruppe zurückkehrender Flüchtlingskinder, konnte mein eigenes aber nicht empfangen. Das war ein bloßes Hingehen und Zuschauen. Die Menschen wirkten auf mich bekannt und zugleich fremd: ich hatte das Gefühl, sie an ihren Gesichtern zu erkennen, andererseits standen sie da und erschienen mir fremd.
Uns wurde mitgeteilt, wenn ein Zug mit Kindern erwartet wurde; schon frühmorgens reihten wir uns auf dem Bahnhof ein. (…) Junge Menschen stiegen aus dem Zug und riefen die Namen der Menschen heraus, die sie suchten. (…) Nie zuvor habe ich so viel Glück mit so viel Schmerz vermischt gesehen, so eng miteinander verwoben. Mein eigenes Kind war von der Liste gestrichen worden, wieder und immer wieder, vielleicht sogar von derselben Hand. Und ich musste zusehen und es ewig ertragen, ich musste an meinen Tränen fast ersticken und sie hinunterschlucken. (…)
Eines Tages setzte ich mich in den Zug und fuhr nach Belgrad. Über Belgrad würde ich mein Kind suchen. Ich hatte so einen Hass auf die Züge bekommen, meine Abneigung wäre beinahe in Fleisch und Blut übergegangen. Aber das Warten hatte ich auch satt. Ich hielt es nicht mehr aus. Also knöpfte ich mir das jugoslawische Außenministerium vor und klopfte dort an allen Türen. Ich ging zu diesem und zu jenem und zum nächsten Genossen, und sie sagten mir: „Wende dich dorthin.“ Also wandte ich mich dorthin und wurde wieder zurückgeschickt: „Dafür sind wir nicht zuständig“, hieß es. Ich rotierte, ging von Tür zu Tür. Bitter wie Wermut waren die ganzen Abweisungen – ich kam mir wie eine Bittstellerin vor, eine Bettlerin. Was mir nicht alles durch den Kopf ging, aber ich ließ nicht locker: Das Kind war der Eckpfeiler meiner Welt. (…)
Man entschied, mir einen fingierten diplomatischen Pass auszustellen. Mit meinem Vornamen, aber mit einem anderen Nachnamen. Wo die Wahrheit nicht durchkommt, schafft es die Lüge. Man fürchtete, ich könnte etwas Großes anrichten. Also reiste ich als hohe Angestellte des Jugoslawischen Roten Kreuzes nach Rumänien. Würde mein Umherstreifen auf den Straßen Europas und Asiens einmal ein Ende haben? Der Weg glitt fort und fort, ein Ende war nicht in Sicht. In Bukarest hatte ich mehrere Treffen mit Vertretern des Rumänischen Roten Kreuzes. Wir verhandelten über die Rückkehr aller Flüchtlingskinder, die aus dem ägäischen Teil Mazedoniens stammten. Wie mir dabei zu Mute war – von Kindern zu sprechen, aber nicht sagen zu dürfen, dass ich wegen des eigenen Kindes gekommen war – weiß allein ich. Ich trug eine schwarze Brille, die ich nicht absetzte; ich versteckte mich, wo ich nur konnte. Mich plagte die große Angst, jemand könnte mich sehen und erkennen. Ich saß wie auf Kohlen. Eine der Frauen merkte es mir an und begann zu bohren, als wir zu zweit zusammensaßen. (…)
„Haben Sie etwas zu verstecken?“
„Ja, ich verstecke mich selbst.“
„Wollen Sie nicht darüber reden?“
„Ich wüsste nicht, wo ich anfangen sollte“, sickerte es aus mir heraus. Vor jedem Wort zog ich an meiner Zigarette, meine Worte hüllten sich in Qualm. Und trotzdem wusste ich nicht, wie ich das Thema angehen sollte – mein Verstand zerrann wie Wasser.
„Sagen Sie es geradeheraus“, bot mir die Frau an.
„Ich habe hier selbst ein Kind“, brachte ich heraus und spürte die Tränen in mir aufwallen, die bald überquollen und in die Kaffeetasse tropften. Mein Gott, führt der Weg zum Glück durch ein Meer von Tränen?
Die Frau stand auf und rückte den Vorhang zurecht, damit das grelle Sonnenlicht nicht mehr auf den Tisch fiel. Und ich dachte, sie steht auf, um die Polizei zu rufen! Sie sprach nochmals zu mir:
„Weinen Sie ruhig, es ist in Ordnung … Wie heißt das Kind?“
„Ivan Abazovski“, schniefte ich.
„Sie sind seine Mutter?“
„Ja. Der Vater ist umgekommen.“
„Das Kind hat aber einen anderen Nachnamen.“
„Nein, ich bin es, die einen anderen Nachnamen hat. Ich habe nochmals geheiratet“, log ich.
„Ich kenne das Kind“, verriet mir die Frau. „Bei jedem Gesuch von Ihnen haben wir Bukarest verständigt, aber jedes Mal ist ein Vertreter der griechischen Partei gekommen und hat uns das Kind wieder weggenommen. Ich weiß nicht, warum sie den Jungen nicht freigeben wollen.“
„Ich weiß es auch nicht.“
„Wenn das so ist“, sagte sie, „werden wir Ihnen das Kind ohne deren Wissen übergeben.“
Ich schnellte aus meinen Sitz hoch, meine Zigarette zerbarst in einem Funkenregen, weiße Tauben flatterten draußen durch die Lüfte. Die ganze Stadt wimmelte nur so vor Tauben.
Zwei Tage später rief man mich von der Rezeption: „Sie haben Besuch!“ Ich lief die Treppe hinunter, ohne auf den Aufzug zu warten. Ein geheimnisvolles Licht führte mich die Stufen hinunter. Ich rannte und hörte plötzlich Schritte hinter mir … Im Foyer stand die Frau, neben ihr ein Kind mit angstvollen Augen.
„Hier ist deine Mutter“, sagte sie ihm.
Das Kind sah mich an und hielt sich fest an ihrer Hand. Es wollte sie nicht loslassen.
„Das ist deine Mutter … geh doch zu deiner Mama“, sprach die Frau und gab ihm einen Schubs in meine Richtung. Aber das Kind machte keinen Schritt weiter, drehte den Kopf weg, wollte zu der Frau zurück. Mein Gott, sagte ich mir, will mich mein eigenes Kind nicht sehen? Ich bin ihm völlig fremd geworden. Es hielt die Hand vor den Augen, drückte die Augen zu. Ob aus Angst, aus Scham oder etwas anderem. Ich wusste auch nicht, wie ich es ansprechen sollte, ich war ganz benommen. Und doch ging von ihm ein Licht aus. Auch in mir glühte ein Licht: es wärmte meine Seele und fuhr wie eine Hand über mein Gesicht.
„Du bist keine Mutter“, sagte der kleine Junge zu mir.
„Ich bin deine Mutter –“, beteuerte ich ihm, „du hast keine andere.“
„Mütter gehen doch in Schwarz“, hielt er mir vor.
Ich entsann mich: man hatte mir von den Erzieherinnen in den Waisenheimen erzählt. Dass alle schwarze Kleider tragen, schwarze Kopftücher auch. Das war Vorschrift: damit die Kinder sich an ihre Mütter erinnern.
„Mütter tragen ihre Haare nicht offen“, legte der Junge nach. „Alle Mütter trauern und tragen ein schwarzes Kopftuch.“
„Ich bin schwarz in der Seele, dort ist mein Schwarz“, sagte ich und fasste nach seiner Hand, aber er drehte sich um und lief mir weg. Er warf sich auf die Frau, klettete sich wie Efeu an ihrem Hals fest und ließ sie nicht mehr los. Mein Herz zerbrach wie Glas, wie ein Becher, der zu Boden fällt.“ (S. 289-294)