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Prosa
Igor Isakovski - Schwimmen im Staub (Auszug, Seite 2)
171.
Ich rannte von der Metrostation zum Bahnhof, zur Tafel mit dem Fahrplan, dann zum Bahnsteig, auf dem mein Zug stand, und lief ihn ab, bis ich sie alle auf einem Haufen hübsch versammelt fand. Nur der Wodka fehlte.
”Verdammt. Ich dachte schon, ich müsste hier bei den Ungarn blieben ...”
”Na, ob die dich nehmen würden, so wie du aussiehst?”, sagte Türke.
”Ich musste rennen, Mann. Oder denkst du, ich war im Freibad? Nie wieder lasse ich meinen Pass bei jemand anderem, auch wenn ich stockbesoffen bin,” brachte ich japsend heraus.
”Hier ist alles, was du brauchst”, sagte jemand. Und reichte mir eine Flasche Wasser. Das war alles, was ich brauchte, er hatte Recht. Wer war es gewesen? Džirlo? Vielleicht. Je mehr ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir, dass er es war. Für die Geschichte ist das vielleicht nicht wichtig, aber es ist wichtig für mich: Ich will mich an alle erinnern können, mit denen ich in einem Augenblick meines Lebens zusammen war. Nicht, weil ich der Meinung bin, mein Leben wäre so wahnsinnig wichtig für jemand anderen außer mir, sondern weil all die Menschen und Orte mich eben zu dem gemacht haben, was ich bin, egal wie kurz und oberflächlich die Berührungen waren. Staub fällt auf friedliche, tote Orte. Noch nie hatte ich mir erlaubt zu beobachten, wie er sich ablagert: Immer nahm ich gerade Anlauf. Um in ihn einzutauchen und hindurchzuschwimmen. Um ihn aufzuwirbeln. Vor allem in mir. Dann würde alles leichter sein. Ich würde erleichtert aufatmen, durchatmen, dachte ich.
Aber noch steckte ich hier, im Staub. Er deckte mich jeden Tag ein bisschen mehr zu. Unmerklich. Mimikryartig.
172.
Der Einberufungsbescheid erwartete mich neben der Schreibmaschine. Am 19. September, stand drauf. Es war mitten in der Nacht. Alle schliefen. Ich ging in die Küche und fand eine der Flaschen meines Vaters. Schenkte mir einen Doppelten ein und setzte mich vor die Schreibmaschine. Draußen dämmerte es. Ein Blick zum Kalender. Heute war der 18. September. Ich sah meine Haare an. Sie gingen mir bis zur Brust. All das würde morgen weg sein – die Haare, die Schreibmaschine, die Fotos von ihr an der Wand, auch das einsame Betrachten der Morgendämmerung. Morgen um vierundzwanzig Uhr würde ich in der Kaserne ”Maršal Tito” in Zagreb sein, Militärpost-Nr. ххххх. Ich trank auf Ex, kippte einen Zweiten hinterher.
173.
Zu einer anständigen Zeit, so gegen Mittag, rief ich bei Ozana an.
”Ich komme morgen früh”, sagte ich.
”Dann hole ich dich vom Bahnhof ab.”
”Ich werde geschoren sein.”
”Denkst du, ich erkenne dich nicht?”
Nachmittags um fünf versammelten sich einige Leute bei mir zu Hause. Um mich in die Jugoslawische Volksarmee zu verabschieden. Wir saßen herum und versuchten, uns zu unterhalten. Schwierig. Emily, meine ”Schulbankschwester”, griff mir im Badezimmer in die Haare. Zuerst flocht sie mir einen dicken Zopf. Dann machte jemand ein Foto von mir. Alle mochten meine langen Haare. Wenn sie doch nur meine Offiziere in der Armee wären. Aber sie waren es nicht. Daher verabschiedete ich mich von meinen Haaren schon an diesem Morgen. Dort wird mich niemand massakrieren, sagte ich mir. Emily nahm die Schere, ritsch-ratsch, und alles war vorbei. Sie verpasste mir noch einen richtigen Schnitt, ich rasierte mich, und schon war ich armeetauglich. So schien es mir zumindest.
Im Wohnzimmer hielt Giš Vorträge darüber, wie unnötig die Armee sei und wie sie Menschen zu Grunde richte. Als befände ich mich auf meiner eigenen Totenmesse. Mein Vater fing an sich zu betrinken, meine Mutter war ganz aufgewühlt, meine Schwester servierte Getränke. Ich hatte größte Lust, auszugehen und sie in diesem seligen Trauerzustand zu belassen. Emily führte mich an der Hand zurück ins Zimmer. Alle reagierten pathetisch, aufgewühlt. Als wären meine Haare die Essenz meines Daseins gewesen.
”Kirca, jetzt werden mich die Nachbarn nicht mehr schief angucken”, sagte ich zu meinem Vater und setzte mich neben ihn. Wir schenkten uns ein und tranken auf Ex. In seinen Augen standen Tränen. So wie jetzt in den meinen.
174.
Abends um zehn fuhr der Zug. Emily und meine Schwester liefen hinter ihm her. Meine beiden Schwestern. Die das Leben mir rauben würde. Eine lange Geschichte. Eine andere Geschichte, die über meine beiden Schwestern. Während sie dem Zug hinterherliefen, sah ich ihre Tränen. Ich erzitterte. Ich komme wieder, wollte ich ihnen sagen. Das war alles, was mir einfiel. Ich sagte nichts, rief nicht. Natürlich würde ich wiederkommen. Heulsusen – jahrelang bin ich praktisch nicht zuhause gewesen, und jetzt heult ihr, weil ich zwölf Monate weg sein werde. Das hätte ich ihnen sagen müssen. Das fiel mir eine Stunde später ein, als ich versuchte, ihren Schmerz zu überwinden. Eine Viertelstunde vor Mitternacht ging ich ins Bordrestaurant und kaufte eine Flasche Rum.
Als ich ins Abteil zurückkam, saßen dort zwei Typen. Ich stellte mich ihnen vor. Und sie sich mir. ”Sean und Samuel – Sam. Aus Irland.”
”An welchen schlimmen Ort fährst du denn?”, fragte Sam.
”Nicht schlimm. Ich muss zur Armee.”
”Wir haben gesehen, wie sie dich verabschiedet haben, mit Tränen.”
”Wo seid ihr eingestiegen?”
”In Thessaloniki.”
”Ich – in Skopje. Ich habe euch gar nicht bemerkt”, sagte ich.
”Du hattest auch Tränen in den Augen”, meinte Sean.
”Vom Trinken. Möchtet ihr Rum?”
”Was anderes gibt’s nicht, oder?”
”Nee, Kumpel, und ich weiß nicht einmal, wann es wieder was gibt.”
”Dann wollen wir auf dich trinken!”, schlug Sam vor.
”Erst in zehn Minuten”, sagte ich.
”Warum?”, fragten sie.
”Weil ich dann Geburtstag habe.”
Zehn Minuten tranken wir schweigend, dann begannen wir anzustoßen. Wir exten. Mit Küchenrum. Dem billigsten Alk aus dem Bordrestaurant.
Ich erfuhr alles über sie, ich fand sie sympathisch. Sie waren in Griechenland gewesen, hinter irgendwelchen Frauen her. Die Ausbeute war mager – gerade mal eine pro Tag. Zum größten Teil Engländerinnen.
”Von der Quantität her war’s eben Scheiße, Kumpel, aber schöne Titten hatten sie”, meinte Sam.
”Engländerinnen sind süß, weißt du,” sagte mir Sean.
”Keine Ahnung. Noch nie probiert.”
”Seit einem oder zwei Jahrhunderten verwalken uns die Engländer den Hintern, weißt du. So ist es doch ein Vergnügen, gelegentlich ihre Frauen durchzuwalken”, witzelte Sam.
”Wohl schon seit mehr als ein oder zwei Jahrhunderten ...”, sagte ich.
”Ist nur so eine Redewendung, Kumpel, nur so eine Redewendung”, erklärte Sean.
Wir feierten durch bis Belgrad. Die Flasche leerte sich und wir sanken in den Schlaf der Gerechten. Sie tranken gut, die Iren, hielten sich wacker. So begingen wir meinen zwanzigsten Geburtstag.
175.
Ozana kam mir entgegengerannt und umarmte mich stürmisch, verkatert wie ich war. Sie hatte ein Tuch in den langen blonden Haaren, trug eine breite Tunika, Lennon-Sonnenbrille, Schlaghosen und Plateauschuhe. Und einen Haufen Halsschmuck. Größtenteils Geflochtenes.
”Siehst du? Ich habe dich erkannt.”
”Komisch.”
”Gar nicht. Du kennst doch die Geschichte über das Fenster der Seele, oder?”
”Wie ist denn meine Seele?”
”Ruhig. Friedlich. Wie ... goldener Staub ...”
Hast du den Schlüssel zu mir gefunden, um mich von innen zu öffnen, zu erlösen, dachte ich.
”Wie ist das mit dem Staub?”
”Er wirbelt ... Wie kühler Weißwein an einem Sommernachmittag.”
”Komm, gehen wir trinken. Ich habe Geld zusammengekratzt, das können wir heute verbraten.”
Zuerst tranken wir Rotwein. Dann Kognak. Danach aßen wir fettiges Fleisch. Wir kreuzten im Zickzack durch Zagreb, aber irgendwie zog es mich immer zum Ban-Jelačić-Platz zurück. Das war für mich das Herzstück der Stadt, hier fühlte ich mich wie zu Hause. Vor der Kaserne hatte ich Schiss.
Sie umarmte mich, küsste mich, lachte und strahlte. O meine Ozana, wie viel Kraft brauchst du dafür, dachte ich, und folgte ihr. Sie zeigte mir billige Kneipen, nette Billardsäle, unansehnliche, aber gute Esslokale. Falls du mal Ausgang hast und ohne mich unterwegs bist, sagte sie mir, weißt du, wo du hingehen kannst. Wenn du in Uniform bist, wird man dich nicht so mögen wie jetzt, aber du wirst schon klarkommen.
176.
Wir saßen in einem jener unansehnlichen, aber guten Lokale und aßen noch einmal. Dabei erzählte ich ihr von Mirta.
”Möchtest du, dass wir sie besuchen?”, fragte sie.
”Ich weiß nicht ...”
”Komm, wir trinken diese Flasche aus und gehen hin”, entschied sie.
”Das ist sowieso unsere letzte. Ich habe keinen Scheißdinar mehr.”
”Es ist nicht gut, ohne Geld in die Kaserne zu gehen, habe ich gehört. Vielleicht wirst du dort etwas kaufen müssen.”
”Lass nur, ich komme schon zurecht.”
Wir schlangen das Essen hinunter, tranken den Wein aus und brachen in Richtung Siget auf.
Sie waren völlig entsetzt, als wir vor ihrer Tür standen, und wussten nicht, was sie zuerst tun sollten – mich umarmen oder sich mit Ozana bekannt machen. All das schrieben die üblichen Verhaltensnormen vor. Aber Ozana und ich waren keine üblichen Erscheinungen, und das warf sie aus der Bahn. Nein, Mirta war nicht zu Hause. Tanja auch nicht. Wir saßen also bei den Eltern herum und laberten über Literatur. Als würden sie sich dafür interessieren. Sie konnten es kaum erwarten, dass wir wieder gingen.
177.
”Noch zwei Stunden bis Mitternacht”, sagte Ozana. ”Wie lange hast du noch?”
”So lange.”
”Was machen wir jetzt?”
”In ein letztes Café gehen, wenn wir Geld hätten.”
”Haben wir doch ...”
”Waaas?”
”Mirtas Mutter findet, dass man Soldaten unterstützen muss ...”
”Willst du mich verarschen?”
”Sie hat mir drei Hunderter gegeben, als Mirtas Vater dir zum letzten Mal einschenkte. Die wirst du gut gebrauchen können.”
”Vielleicht sind sie gar keine solchen Klugscheißer, wie ich dachte.”
”Quatsch, das sind echt nette Leute! Du kommst unangemeldet zu ihnen, mit deiner Freundin, die nicht ihre Tochter ist, sagst ihnen, du musst zur Armee, betätschelst mich zwischendurch, und sie gießen dir ständig ein und geben dir obendrein auch noch Geld. Also, echt ... richtige Klugscheißer, oder?”
”Schon gut, sie sind keine. Ich kann mir bloß nicht erklären, warum sie mich so mögen.”
”Weil du bist, wie du bist. Sie wissen, dass du sie nicht ausstehen kannst, aber du bist auch so anständig wie nötig.”
”Toll, jetzt werde ich selbst zum Klugscheißer ...”
”Nein, mein Lieber, ein Klugscheißer bist du, seit ich dich kenne. Und so mag ich dich!”
Zwei Stunden vorm Betreten der Kaserne – was sollte man da noch anfangen? Wenig Zeit, gerade genug für Küsse und Zärtlichkeiten.
178.
Ich stand vor dem großen Metalltor. Klopfte. Zuerst langsam, dann so, wie ich mir vorstellte, dass ein Soldat klopfen würde.
”Was gibt’s?,” sagte der Soldat von der anderen Seite des Tors.
”Ich bin einberufen worden”, antwortete ich.
”Lass mal sehen.”
Er nahm den Bescheid, lächelte.
”Um fünf vor zwölf meldest du dich, ja?”
”Ja.”
”Also dann, herein mit dir.”
Ich drehte mich zur Stadt herum. Ihre Lichter schwammen vor meinen Augen, als spiegele sich die Stadt in einem großen, dunklen Meer.