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Prosa
Ermis Lafazanovski
Als man sich in Skopje die Regenschirme ausgedacht hatte
Übersetzt aus dem Makedonischen von Tiina Fahrni
Diese Krankheit. Eine Krankheit, die sich nicht zeigt, über die man nicht spricht und die man schon gar nicht rechtzeitig erkennt – und wenn es so weit ist, ist es zu spät. Sie beginnt ohne Schmerzen, kommt still und hinterhältig, aber zerstört und zerschlägt viel mehr, als man sich überhaupt vorstellen kann; sie kommt von außen, in tausend Teilen und Schichten, und ihr Ziel ist es, sich in der Mitte des Körpers wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen. Sie befällt zuerst die Zehen und Finger und das Haar, das augenscheinlich ergraut, dringt durch Mund und Nase ein, durch Augen und unbedeckte Haut, und beginnt, wie ein Räuber, den Körper des Menschen allmählich auszuhöhlen, ohne dass er merkt, was mit ihm geschieht; man würde sagen, bevor er auch nur mit der Wimper zucken kann. Ihre Bestandteile finden sich in der Seele des Menschen zusammen und werden Eins; Eins, das weder schmerzt noch brennt noch sich von der Stelle bewegt. Doch der Mensch, der diese Krankheit in sich trägt, kann sich von ihrem Joch nie wieder befreien, zum Zerglühen verflucht.
Es war ein Tag zum Baden und die Haare in die Stirn Kämmen, ein Tag zum Hemden Wechseln, sich Rasieren, zum die Kinder der Größe nach Aufreihen, zum Weihrauch Einatmen, zum mit feuchten Augen Hochblicken in die Augen der Gottesmutter, zum dem Widerhall der Kirchenglocken Lauschen; ein Tag um die Zeit herum, in der man irgendwo auf der Welt das Photographieren erfunden hatte, und schließlich der Tag, an dem Trendafil mit zwei Kindern und einer Ehefrau im Schlepptau aufbrach, um sich zum ersten Mal im Leben photographieren zu lassen, alle fröhlich wenn auch aufgeregt, ruhig wenn auch unausgeschlafen.
Sie hielten sich aneinander fest, seine Frau und die Kleinen, damit sie nicht verloren gingen im Gewühl der Stadt, und damit sie ihn nicht aus den Augen verlören, ihn, der einige Schritte vor ihnen her rannte, in der Tracht seines Dorfes aufgebrezelt wie für den Jahrmarkt, der sich mit den Ellbogen einen Weg hindurchbahnte zwischen Händlern und Nichtstuern, Dschamalaren und Janitscharen, Arabern und Maronenverkäufern, Odschas und Hodschas, Gaunern und Störenfrieden, die schamlos alles und jeden anrempelten.
An ihnen vorbei flogen die Fenster der Bezirkshäuptlinge und die gesprungenen Auslagenscheiben der Zuckerbäcker, glänzende Goldzähne von Schmuckhändlern und düstere Blicke von Dieben, die sich in noch düstereren Gassen versteckt hielten, Kattun- und Seidenläden, Kaffe- und Teestuben, und nichts von alledem durfte auch nur für einen Augenblick stillstehen, denn Trendafil ließ es nicht zu. Er rannte voraus wie von der Tarantel gestochen, drängelte und trat um sich, beäugte andauernd seinen Mantel, dass ihn ihm ja keiner bekleckerte, oder drehte sich nach seinem Gefolge um. Dieses rannte hinter ihm her, außer Atem und ohne innezuhalten, obwohl die Blicke von Kindern und Ehefrau immerzu an den Schaufenstern der sauberen verlockenden Läden haften blieben, und hätte sie nicht dieses wichtige Ereignis erwartet, das Photographiertwerden, dann wäre bestimmt einer von ihnen, von den dargebotenen Schönheiten hingerissen, vor irgendeinem Schaufenster stehen geblieben und hätte ohne Scham gesagt „das will ich!“ oder „jenes will ich!“, und dann hätte Trendo sein Säcklein aufschnüren und die Dukaten und Napoleoner anbrauchen müssen, die er schon seit dem Tag seiner Hochzeit hütete, für besondere Anlässe, dieser Geizhals.
Die Krankheit befiel Trendafil, als er, die anderen hinter sich geschart, vor dem Geschäft stehen blieb, in dem die Besitzer der abgelichteten Gesichter – mal dort mal da hin gedreht, mit kolorierten oder gebleichten Wangen –, mal Männer mal Frauen, mal Türken mal Arnauten, ihre Seelen für immer zurückgelassen hatten, in kleinen quadratischen Tafeln eingefangen, um nun seelenlos auf der Welt zu wandeln.
Eine zarte Zufriedenheit, mit Angst vermengt, legte sich auf die selbstsüchtigen kleinmütigen Seelchen der Betrachter. Das Blut begann ihnen zu sieden, von den Fußsohlen gen Kopf. So verharrend, von der Aufregung überrumpelt, glichen ihre Gesichter einem Bild, das von den Gesichtern auf den Bildern im Schaufenster betrachtet wird. Alle schienen glücklich zu sein, bis zu dem Augenblick, als Trendo mit bereits zusammengenommenem Mut und der Entschlossenheit des Familienoberhauptes verkündete:
„Ich kaufe einen Regenschirm!“
Da es ein Tag war zum photographiert Werden und Ikonen Küssen, war es möglich, alles, wirklich alles, in die Gedankengänge der Ehefrau und der Kinder einzuordnen, alles, ja sogar, dass sich nun endlich, nach langem Hinauszögern, Überzeugen und Herumstreiten, alle zusammen photographieren lassen und dann die Bilder an die Wand hängen würden, wie es die reichen Kattun- und Seiden- und Kaffeehändler zu tun pflegen –, aber es war unmöglich, dort einen gewöhnlichen Regenschirm einzuordnen, den niemand außer Trendo bemerkt hatte, wie er in der gleichen Auslage wie die Bilder stramm und stolz in einer Ecke stand und, freilich, zu verkaufen war.
Natürlich fragte die Ehefrau, die nicht glauben konnte, was sie gehört hatte, nach, was er da gesagt habe, und er sagte nochmals dasselbe, und sie fragte nochmals nach, und er sagte nochmals dasselbe. Es erwies sich, dass er nicht die geringste Absicht hatte, sich photographieren zu lassen, dass er sich schon lange mit dem Gedanken trug, einen Regenschirm zu kaufen, und dass er nichts davon gesagt hatte, nur damit sich im Kopfe seiner Frau keine Strategie entwickle, die den Kauf vereiteln würde.
Deshalb ist als erstes erkennbares Zeichen für das Auftreten der Krankheit bei Trendafil der Moment zu werten, in dem er vor dem Schaufenster mit den Photographien auszurufen begann, er wolle jetzt diesen Regenschirm und nur diesen Regenschirm, wie ein kleines Kind, obwohl er schon einige Jahre auf dem Buckel hatte. Seine eigenen Kinder starrten ihn an, verwirrt durch den völlig neuen Lauf des Geschehens. Wie dem auch sei, der Ehefrau wurde mehr als klar, besonders als er es ihr in aller Deutlichkeit sagte, dass Trendafil wenn schon nicht ein reicher Mann, so doch zumindest ein ehrenwerter Herr werden wollte, und wenn er keinen Regenschirm hatte, wie würde dann irgendjemand in ihm diese Eigenschaft erkennen können?
„Na gut, und mit was für Geld willst du dir denn einen Regenschirm kaufen? Aus dem Schädel sollen sie dir sprießen, die Regenschirme …“, versuchte sie zu retten, was zu retten war, und fuhr fort, ob er denn meine, wenn er einen Regenschirm kaufen würde, nähme man ihn gleich in den Kreis der Reichen auf, ihn, Trendafil den Totengräber, Trendafil den Gärtner, den Maler und Maurer, den Kehrichtmann, den Lastenträger, Entlauser, Heuverkäufer?
„Nein! Ich kaufe einen Regenschirm!“, sagte er, und seine Augen glänzten immer mehr, während die der anderen immer finsterer wurden.
„Und was sollte das Gerede gestern, von wegen morgen gehen wir zum Photographen? Und wir, wir schwänzelten um dich herum und fielen dir vor Freude um den Hals“, sagte sie, obwohl ihre Stimme immer mehr im Geschrei der Kinder unterging, die der anschwellende Streit aufgeschreckt hatte.
Und dann sagte sie noch, als allerletztes, dass die Kinder neue Schuhe brauchen und dass bald kein Öl mehr da ist, und kein Salz, und…
Nichts half mehr, er schrie aus voller Kehle - und sogar in dem ganzen Gedränge und Gewimmel fanden sich ein paar Leute, die sich umdrehten, um zu sehen, wer da schrie: „Wenn ich doch sage, dass ich einen Regenschirm kaufe…dann kaufe ich einen!“
Danach wurde nicht mehr gesprochen. Trendafils Augen waren nicht mehr die seinen, seine Pupillen waren schon in den Brunnen der Erinnerung abgesunken, auf dessen Grund die Krankheit saß.
Er hatte sein Taschentuch hervorgezogen und begonnen, sich den Stiernacken zu trocknen. Er drehte sich nach links und rechts, um zu sehen, ob ihn noch jemand anstarrte, weil er einen Regenschirm kaufen wollte, und zwar genau dort, wo der dumme Trajko und Herr Mitre und der Pope Josif und Frau Magdalena für ihren Schwiegersohn Milan einen gekauft hatten, ja sogar Tripun mit den zwei Töchtern, die er an Händler verheiratet hatte.
Trendafil war nicht mehr derselbe wie am Tag zuvor.
Die Krankheit war ihm schon durch den ganzen Körper gekrochen und hatte mir nichts dir nichts die Galle erreicht, dann den Magen, wo sie nichts Interessantes gefunden und deshalb alles so belassen hatte, wie es war, und hatte dann weitergesucht, bis sie in einem schmalen Winkel die vor Angst zusammengerollte Seele Trendafils gefunden hatte, in deren kleinen zarten Leib sie ohne zu zögern ihre bläulichen Nägel geschlagen und also gezeigt hatte, dass sie nicht nur keinerlei Absicht hatte, wieder zu verschwinden, sondern dass sie ganz ausdrücklich zu bleiben beabsichtigte. Und je mehr sie zupresste, desto weniger konnte Trendafil seine eigene Ehefrau erkennen, die er hartnäckig bloßgestellt hatte, noch seine schreienden Kinder, die sahen und spürten, dass etwas nicht in Ordnung war, noch die Passanten, die begonnen hatten, sich für seinen Fall zu interessieren und die sich bereits um die Familie scharten.
Trendafil sah in diesen Augenblicken nur noch vor sich, wie er, mit dem Schirm in der Hand, sich den Quartierleithammeln anschließen würde und wie sie zusammen auf dem Bazar auf und ab spazierten.
Die Krankheit hatte bereits die ganze Welt befallen.
Mit voller Kraft stieß er seine Frau von sich und rief „schleich dich“, der Stoß trieb sie geradewegs auf die Kinder zu, und alle drei fielen purzelnd zu Boden. Vergebens fielen Worte wie „denk an deine Frau, denk an die Kinder, verschwende doch nicht das verdammte Geld…“ – nichts half mehr. Die Ehefrau sammelte schniefend ihre Habseligkeiten und Kinder zusammen und machte sich davon, nicht ohne aus der Entfernung, aus voller Kehle, so dass alle es hören konnten, zu schreien: „Was willst du denn mit einem Regenschirm in einem Land wo es nie regnet, du verfluchter Trendafil?“
Er blieb allein vor dem Schaufenster stehen und verscheuchte die Zuschauer mit Totengräber-, Maler- und Kaleschenführerflüchen, zog ein geknotetes Kopftuch aus der Tasche, band es auseinander, zählte das Geld und schritt kühn in den Laden.
Es war Mittag und das Licht war gelber als je zuvor, als Trendafil, vielleicht glücklicher als je zuvor, aus dem Photographengeschäft heraustrat, stramm und stolz in seiner Tracht: ein Fes auf dem Kopf, breite Pluderhosen, die in sich vorne zuspitzenden Bundschuhen steckten, ein weißes Hemd mit einem Gürtel um die Taille und eine schwarze Weste aus Wollstoff. In der rechten Hand hielt er den langen schwarzen Regenschirm fest umklammert und guckte nach links und rechts auf das tobende eilende Gewimmel um ihn herum. Er tat ein paar Schritte und blieb dann breitbeinig auf der Strasse stehen, an den Regenschirm gelehnt, als ließe er sich gerade photographieren. Und tatsächlich blieb er nicht unbemerkt: plötzlich grüßten ihn mal Albaner, mal Türken, Arnauten und Ägypter, Araber und Aserbeidschaner, Kurden und was es sonst noch so gab.
Und über Trendafils Gesicht konnte man sagen, dass es rund und lächerlich war vor Selbstzufriedenheit. Er und die Krankheit waren glücklich!
Doch auf einmal brach ein noch nie gesehenes Gerenne los, Frauen begannen zu kreischen und Kinder zu heulen, Pferde und Maultiere galoppierten los, Esel schrieen, Geschäfte wurden verriegelt, die Menge brach in Panik aus. Durch die engen Gassen drängten sich unvorstellbare Massen, die flüchtend ineinanderströmten wie ein Fluss, wie Lava, wie das Ende der Welt. In der Ferne waren züngelnde Flammen zu sehen, man hörte Schießereien und Stimmen sterbender Menschen.
Ja, es war ein Tag zum sich Waschen und in die Kirche Gehen, zum Lokum und Helva Kaufen, zum Kaffeetrinken, Spazierengehen und Sich photographieren Lassen, sogar ein Tag zum Regenschirmkaufen, aber es war auch ein Tag für Aufstand und Aufruhr, zum auf die Fundamente Ausbrennen, und Trendafil fiel mit blutigem Hemd auf das Kopfsteinpflaster, mit zerfetzten Bundschuhen und einem erstarrten Lächeln im Gesicht, beide Hände fest um den Regenschirm geklammert, überrannt von der tobenden Masse, die panisch die Flucht ergriffen hatte.
Und so starb er. Die Krankheit aber blieb, um die Welt zu beherrschen.